Herodot, Thukydides, Xenophon: Vom Geschichtenerzählen zur Geschichtsschreibung

Herodot, Thukydides, Xenophon: Vom Geschichtenerzählen zur Geschichtsschreibung
Herodot, Thukydides, Xenophon: Vom Geschichtenerzählen zur Geschichtsschreibung
 
Geschichten, das heißt überschaubare Darstellungen von Geschehensabläufen, wurden schon von den Aoiden in der Zeit der mündlich tradierten Epik in Hexametern vorgetragen; manche von ihnen sind in die homerischen Epen eingearbeitet worden. Geschichten in Prosa wurden lange Zeit erzählt, bevor manche von ihnen ins Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos eingegangen sind. Er hat viele ionische Erzählungen von merkwürdigen Begebenheiten - man spricht auch von Novellen -, als Bausteine in sein Werk eingefügt. Zu diesen Geschichten gehören unter anderem die von Gyges und der Frau des Kandaules, von Kroisos auf dem Scheiterhaufen und Apoll und vom Ring des Polykrates. Der große Bauplan von Herodots neun Bücher umfassendem Werk, er nennt es »Darlegung seiner Erkundung« (»histories apodexis«), hat nun zwar die ethnographischen Schriften des Hekataios (um 500 v. Chr.) zur Voraussetzung; Herodot schildert wie jener die Sitten von einigen Völkern, besonders der Ägypter, doch tut er es in der Reihenfolge, in der sie sich den Persern als unterlegen erweisen. Damit ordnet er sie in einen historischen Ablauf ein, an dessen Ende der Sieg der Griechen über die Perser steht, den er bewundernd schildert.
 
Die Anstöße zum Handeln der Menschen gehen ähnlich wie im Epos von diesen, aber auch von einer höheren göttlichen Macht aus, ohne dass dadurch die Menschen von Schuld freigesprochen wären; sie werden vor Selbstsicherheit in großem Glück gewarnt. Der athenische Historiker Thukydides wendet in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges eine uns durchaus vertraute Methode an; er betreibt intensiv kritische Nachforschungen und fragt rational nach den Machtverhältnissen und politischen Interessen, durch die das Handeln der Menschen bestimmt wurde; bei der historischen Deutung wird bei ihm das Irrationale, das bei Herodot als das Göttliche eine große Rolle spielte, zurückgedrängt, obwohl er auch das Unberechenbare (»paralogos«) kennt. Seine Geschichtsdarstellung sieht er als ein politisches Lehrbuch an. Von einer direkten moralischen Bewertung der geschilderten Ereignisse hält er sich zurück, indirekt wird aber sein harter Tadel an der immer maßloser werdenden Politik Athens deutlich, dessen Zusammenbruch er erlebt hat. Dagegen bewundert er des Perikles kluge politische Voraussicht und Vorsorge, dessen Planungen sogar das Unberechenbare mit einbezogen haben; für die Athener wäre der Sieg möglich gewesen, hätten sie sich an seine Weisungen gehalten, nicht den Krieg in Sizilien zusätzlich begonnen und wären sie einig geblieben (2, 65); zu solchen politischen Fähigkeiten will Thukydides auch seinen Lesern verhelfen. Die politische Analyse einer historischen Situation bietet er nicht nur in eigenen Darlegungen, sondern er lässt sie in seinem Werk in aufeinander bezogenen Reden von zwei entgegengesetzten politischen Standpunkten aus deuten. Vor allem diese Reden enthalten viele nüchterne politische Sentenzen. Thukydides kann jedoch auch, wie am Ende des siebenten Buches in seiner Darstellung der athenischen Niederlage bei Syrakus, packend unter Einbeziehung psychologischer Momente erzählen.
 
Xenophon setzte neben vielen anderen mit seinen »Hellenika« die Geschichte Griechenlands fort. Der gelehrigste Schüler des Thukydidesin der Methode war Polybios aus Megalopolis, der im 2. Jahrhundert v. Chr. beschrieben hat, wie die Mittelmeerwelt unter die römische Herrschaft kam; er schrieb also Universalgeschichte. Die Art seiner Geschichtsschreibung nennt er »pragmatisch«, von ihm als einem erfahrenen Staatsmann sei sie zur Belehrung zukünftiger Politiker verfasst. Der hellenistischen Mentalität entsprechend sieht er in der Geschichte einerseits das Walten der Tyche (einer willkürlichen Schicksalsmacht), andererseits glaubt er, mithilfe eines festen Schemas vom Kreislauf der Verfassungen den Ablauf des politischen Geschehens im Voraus bestimmen zu können. Zuvor schon war jedoch im 3. Jahrhundert mit Duris von Samos und Phylarch von Athen eine Geschichtsschreibung auf den Plan getreten, die durch realistische Schilderung auch von schrecklichen Ereignissen und Handlungen die Affekte des Lesers zu erregen trachtete; man bezeichnete sie deshalb auch als tragisierend. Es gab eine Fülle von Universalgeschichten, die den gesamten Mittelmeerraum umfassten, zum Beispiel die des Diodor von Sizilien, zur Zeit Caesars, und daneben viele Geschichtsdarstellungen von Regionen, Städten und Völkern, so zum Beispiel die des Timaios von Tauromenion (um 300 v. Chr.) über Sizilien; er führte auch die absolute Jahresbestimmung nach Olympiadenjahren in die Geschichtsschreibung ein.
 
Eine der Geschichtsschreibung eng verwandte Gattung ist die Biographie. Sie hat ihre Wurzeln unter anderem im Interesse an großen Dichtern und Denkern, ihre Voraussetzungen in der philosophischen Diskussion besonders bei Aristoteles und Theophrast über ethische Fragen und über Charaktere. Vorformen für die politische Biographie sind Nachrufe wie der des Xenophon auf Kyros der Jüngere in der »Anabasis« und Preisreden oder Fürstenspiegel wie die von Isokrates den griechischen Königen Nikokles und Euagoras gewidmeten Schriften. Erhalten sind uns neben Fragmenten anderer Biographien die von alexandrinischen Gelehrten verfassten, sehr verkürzten Lebensbeschreibungen griechischer Autoren und von Plutarch von Chaironeia die 46 Parallelviten, in denen jeweils ein großer Grieche einem großen Römer gegenübergestellt wird, zum Beispiel Alexander der Große dem Caesar, dazu einige Einzelviten. In diese Biographien hat Plutarch viel historiographisches und biographisches Material früherer Autoren eingearbeitet. Die Darstellung der Personen ist von den in der aristotelischen Schule üblichen Charakterisierungen bestimmt; einer jeden wird jeweils eine Tugend oder ein Laster durchgängig zugeordnet, natürlich droht dadurch dem Bild dieser Gestalten eine etwas einseitige Belichtung. Doch ist die Zielsetzung Plutarchs ja nicht Geschichtsschreibung, sondern die erbaulich-moralische Wirkung auf seine Leser.
 
Prof. Dr. Hans Armin Gärtner und Dr. Helga Gärtner
 
 
Lesky, Albin: Geschichte der griechischen Literatur. Bern u. a. 31971. Nachdruck Bern u. a. 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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